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Vom Reiz des Grenzganges

Er stelle lieber Fragen, als Antworten zu geben.

Das verkündet Michael Zerr, Präsident der Karlsruher Karlshochschule, gleich zu Beginn seines Vortrages vor den zahlreichen Marketingclub-Mitgliedern im Kongresszentrum Westfalenhallen. Und schon legt der Professor für Internationales Management und Marketing los: „Sie sind ja alle in Organisationen tätig. Was ist das denn eigentlich, eine Organisation?“ Nach und nach entwickelt er so gemeinsam mit dem Auditorium seine Thesen, beleuchtet das „riesige Gewusel“ eines Unternehmens und nach welchen „Wusel-Regeln“ es arbeitet. Natürlich spielen Grenzen dabei eine Rolle, festgelegt etwa in Arbeitsverträgen, die auch klarstellen, wer dazugehört zur Organisation und wer nicht.

Regeln und Grenzen sind es, mit denen sich Zerr bevorzugt beschäftigt. Und vor allem Grenzgänge. „Solche Übergänge, die haben was, da passiert was“, schwärmt er. Dort, in den Zwischenräumen, wo Bekanntes auf Neues treffe, entstehe Kreativität. Gute Beispiele seien die aus Erzählungen bekannten Heldenreisen. „Darin verlässt jemand die gewohnte Welt, stellt Kontakt zu einer anderen Welt her, reift in Prüfungen und entwickelt Talente. Und am Ende kehrt dieser Held irgendwie zurück, um zu berichten, was er erlebt hat.“

Gut möglich, dass Daheimgebliebene einen wie Odysseus nach seinen abenteuerlichen Irrfahrten für einen Spinner hielten – eine Bezeichnung, die aus Zerrs Sicht zu Unrecht einen negativen Eindruck auslöst. „Wir brauchen mehr Spinner als Spießer“, fordert der Professor, wenngleich er einschränkt, selbst mal mehr das eine, mal das andere zu sein. Für erfolgreiche Manager und auch Marketingmenschen seien die Fähigkeit und der Mut zu Regelbrüchen, zum Querdenken und zum Perspektivenwechsel unabdingbar, um das Geschäft oder eine Marke lebendig zu halten und sich immer wieder neu für die Erfordernisse des Marktes zu wappnen. Dazu gehöre, die Controller womöglich täglich zu stören, weil deren Routine-Sicht meist nur auf die vertraute Umwelt zugeschnitten sei.

„Wind und Wetter kann man nicht ändern, aber Segel und Ruder muss man danach ausrichten!“, verdeutlicht Zerr die Anpassungsnotwendigkeit. Und das gelinge eben am besten an der Grenze zwischen dem Unternehmen mit seinen Angeboten und der Außenwelt. Er selbst bewies Wagemut und Innovationskraft unter anderem bereits als Gründer und Geschäftsführer der Yello Strom GmbH sowie als Mitbegründer der Agentur vm-people GmbH, die das legendäre Computerspiel „Moorhuhnjagd“ entwickelt hat.

Nach dem Vortrag wendet sich ein Clubmitglied kritisch an den Referenten. Wenn dieser den Regelbruch zur Regel erkläre, sei das doch ein Widerspruch, moniert er. „Da haben Sie eigentlich Recht“, räumt Zerr unbekümmert ein, schweigt einen Moment und fügt hinzu: „Aber ich mache es trotzdem. Und das ist dann wiederum ein Regelbruch. Ganz schön paradox, oder?“